Semiotik

"Symbole oder Mythen .... verständlich dem, der im Leben lebt."

C.W. Hufeland

Die Sprache der Krankheit


Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierte die „Semiotik“ (Lehre der Krankheitszeichen) den medizinischen Alltag. Im Rahmen der semiotischen Erfahrungen wurden körperliche und mentale Zeichen in ihrer zeitlichen Entwicklung genau wahrgenommen und in einen Zusammenhang gestellt, aus dem der Verlauf der Krankheit, ihre Schwerpunkte und Besonderheiten und die weitere Entwicklung abgeleitet wurden. So konnte aus spezifischen Zeichen des Pulses, der Zunge, der verschiedenen Ausscheidungen und anderen Erscheinungen das Bevorstehen einer sogenannten Krise erkannt werden, in der der Körper versuchen würde, über genau definierte Wege die krankhafte Störung zu überwinden. Oder es konnten Zeichen erkannt werden, die auf eine Verlagerung auf andere Organbereiche schließen ließen.  Keines der Krankheitszeichen war zufällig, aber erst die Gesamtschau ermöglichte verlässliche Aussagen.


In den folgenden Jahrzehnten wurde die Semiotik zunehmend von der - bis heute vorherrschenden - „Diagnostik“ abgelöst. Erstere leuchtete die individuellen Krankheitsverläufe in ihrer Tiefe und Weiterentwicklung aus, letztere stellte mit zunehmend verfeinerten Untersuchungs-Techniken  den Schwerpunkt des krankhaft veränderten Gewebes fest und leitete aus statistischen Beobachtungen heraus die Prognose ab. Als Konsequenz der Fokussierung auf pathologische Kondensate gingen dabei viele der feinen semiotischen Wahrnehmungen der alten Ärzte verloren und somit ein Erfahrungsschatz, der sich der heutigen - meist apparativen - Diagnostik entzieht.


Alle homöopathischen Ärzte des 19. Jahrhunderts waren mit diesem Wechsel der medizinischen Denkweise konfrontiert und mussten sich mehr oder weniger in beiden Systemen bewegen und diese gegeneinander abwägen. Dies führte dazu, dass die jeweiligen Wahrnehmungen oft vor einem semiotischen Hintergrund zu verstehen sind und dass somit Fallverläufe und Repertoriumsrubriken oft nur mit Kenntnis dieser Aspekte adäquat eingeschätzt werden können. Die Homöopathie steht somit an der Schwelle des Übergangs von Semiotik zur Diagnostik und muss auch in diesem Kontext verstanden werden.


Das Ziel dieser Betrachtungen besteht nun darin, an diese Denkweise anzuknüpfen und die notwendigen theoretischen und praktischen Fähigkeiten zu vermitteln. Dies ermöglicht eine weitaus sicherere Begleitung der PatientInnen über die verschiedenen Stadien ihrer Krankheit hinweg - und steht überraschenderweise oft in Einklang mit modernster medizinischer Grundlagenforschung. Ein Schritt weiter zu einem vertieften und verfeinerten Erkennen der Vorgänge, die zur Erkrankung und die zur Heilung führen.


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Neuer Text

„So wie das organische Leben nichts Anderes ist, als ein Erhobensein der Dinge zu einer höheren Stufe des Seins, so ist auch das Wesen der ächten Heilkunst nichts Anderes, als ein Erhobensein der empirisch-historischen Kenntnisse zu einer höhern Stufe des Seins im Gemüthe. Alles Wissen muß erst belebt werden, jede Erscheinung erhoben werden zu einer höhern Sphäre, jede Handlung zu einer Lebensart; dann lebt erst die Kunst im Leben, dann erst ist sie wahre Kunst. Daher hatte auch die wahre Heilkunst, von Hippocrates an, ihre eigene Sprache, um diese Welt des Lebens zu bezeichnen, die ihr Element ist, und die sich eigentlich nicht aussprechen läßt. Und daher stehen diese Worte, Coction, Crise, Metastase, selbst Reproduktion, Assimilation, Metamorphose etc. immer als Symbole oder Mythen da, immer unzugänglich den Systemen, aber verständlich dem, der im Leben lebt.“


C.W. Hufeland: Enchiridion Medicum (1836)


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